
Was macht der Male Gaze mit uns?
Der Male Gaze bezeichnet eine Darstellungsform, bei der Frauen aus einer männlichen Perspektive visualisiert werden. Die britische Filmtheoretikerin Laura Mulvey beschreibt in ihrem einflussreichen Paper „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (1975) die männliche Figur als „Betrachter“ und die weibliche Figur hingegen als das „Betrachtende“. Daraus resultiert eine Objektifizierung der Frau innerhalb des filmischen Raums:
“The determining male gaze projects its phantasy on to the female figure which is styled accordingly. In their traditional exhibitionist role women are simultaneously looked at and displayed, with their appearance coded for strong visual and erotic impact so that they can be said to connote to-be-looked-at-ness. Woman displayed as sexual object is the leit-motif of erotic spectacle […]” (S. 11)
Der Male Gaze bedient also häufig erotische Fantasien der männlichen Perspektive. Eine weitere Konsequenz ist die Stabilisierung von einheitlichen Schönheitsidealen, die eine unrealistische Vorstellung des „perfekten“ weiblichen Körpers etabliert. Dabei wird die Frau als Objekt sowohl für die Charaktere innerhalb der Erzählung als auch für das Publikum außen wirksam. In dieser Konstellation entsteht eine klare Machtstruktur: Der Mann wird zum aktiven Blickträger und kontrolliert die filmische Fantasie.
Doch wie äußert sich der Male Gaze konkret im Film? Eine zentrale Rolle spielt hier die Kamera. Durch ihre Ausrichtung, Bewegung und Einstellungsgrößen kann sie einzelne Körperfragmente der Frau – etwa in Nahaufnahmen – isolieren und inszenieren. Diese Close-Ups können (auch unfreiwillig) Intimität und Verletzlichkeit transportieren. Die voyeuristische Perspektive der Kamera imitiert oft das Begehren des Mannes und erzeugt damit ein Machtgefälle zwischen männlicher und weiblicher Figur.
Hinzu kommt, dass das Leid von Frauen im Film häufig ästhetisiert wird. Diese Inszenierungsweise trägt zusätzlich zur Problematik bei, da sie Schmerz und Verletzung romantisieren kann. Durch wiederkehrende Inszenierungsmuster – etwa stilisierte Körperfokussierungen, dramatische Montagen und eine präzise Lichtsetzung - kann der Film eine spezifische Ästhetik entwickeln. Die Thematik befindet sich inmitten einer hitzig-kontroversen Diskussion: Die visuelle ästhetische Gestaltung des Leids kann einerseits emotionale Intensität erzeugen, andererseits aber auch zur Verharmlosung des emotionalen Schmerzes führen. Dadurch wird das Innenleben der Figur oft ignoriert oder verschleiert. Doch es gibt auch einen Weg, wie dem entgegengesteuert werden kann: Wird nämlich gezielt die emotionale Perspektive der weiblichen Figur filmisch sichtbar gemacht, kann der Male Gaze gebrochen, kritisch dargestellt und hinterfragt werden. Das Erschreckende dabei ist aber, dass wir uns schon längst an den Male Gaze aus der Unterhaltungsindustrie gewöhnt haben.
Ein populäres Beispiel ist die James-Bond-Reihe, die mit James Bond – 007 jagt Dr. No unter der Regie von Terence Young 1962 sein Debüt feierte. Die „Bond-Girls“ gelten durchweg als erotisierte Objekte, die für das Vergnügen des Helden der Geschichte sorgen. So stellt die Frau oft eine Art „verführerische“ Ablenkung für den männlichen Protagonisten dar. In der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht (2017), unter der Regie von Gregg Araki, Carl Franklin, Kyle Patrick Alvarez, Jessica Yu, Helen Shaver und Tom McCarthy, wird die Protagonistin Hannah Baker in vielen Einstellungen durch die Fokussierung auf einzelne Körperteile auf ihren Körper reduziert. Besonders in der Vergewaltigungsszene durch Bryce wird Hannah im Whirlpool zusätzlich durch die Kamera entblößt und in eine sichtbar vulnerable Position versetzt. Damit ist die Serie ein passendes Beispiel für die Zweischneidigkeit zwischen kritischer Reflexion und gleichzeitiger Reproduktion des männlich-dominierten Blickes.
Weitere Filme, die den Male Gaze bedienen:
- „The Wolf of Wall Street” (Regie: Martin Scorsese, USA 2013)
- “Top Gun” (Regie: Tony Scott, USA 1986)
- “Keinohrhasen” (Regie: Til Schweiger, D 2007)
- “Baywatch” (Regie: Seth Gordon, USA 2017)
- “Transformers” (Regie: Michael Bay, USA 2007)
- „Blondinen bevorzugt“ (Regie: Howard Hawks, USA 1953)
Das ist natürlich nur eine sehr kleine Auswahl aus einer riesigen Zahl von Filmen. Auffällig ist, dass die Regie dabei von fast ausschließlich in männlicher Hand lag. Ein wichtiger Schritt ist daher, ein Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Filmschaffenden herzustellen und dem bislang unterrepräsentierten weiblichen Blick mehr Raum zu geben. Es zeigt sich, dass Filme auf einem schmalen Grat zwischen kritischer Reflexion und (oft unbewusster) Reproduktion des Male Gaze balancieren. Diese Ambivalenz kann beim Publikum widersprüchliche Wirkungen auslösen – ein Phänomen, für das in Zukunft mehr Bewusstsein und mediale Sensibilität erforderlich ist.
Zu diesem Themenkomplex haben wir ein spannendes Interview mit Letícia Milano und Johanna Faltinat geführt.
Autorin: Mike Olpp
Literatur:
Laura Mulvey, Visual Pleasure and Narrative Cinema, Screen, Volume 16, Issue 3, Autumn 1975, Pages 6–18, https://doi.org/10.1093/screen/16.3.6.

