Mit freundlicher Genehmigung: © CCC Filmkunst & Praesens Film)
Lesen Sie hier den ersten Teil des Drehberichts von Philippe Dériaz.
Schlagwort Internationalität
Wenn schon ein Schriftsteller von (beginnendem) Weltruhm als Drehbuchautor verpflichtet wurde, musste das Vorhaben auf internationalem Fuß angegangen werden. Wechsler verband sich also mit dem heute achtundneunzigjährigen Artur „Atze" Brauner (CCC-Berlin). Daraufhin wurde eine internationale Besetzung beschlossen – mit den entsprechenden Kompromissen (z.B. Aufgabe des Dialektes für eine doch eindeutig in der Schweiz spielende Handlung). Es kam auch keiner der sonst in der Schweiz tätigen Regisseure mehr in Frage. Die Wahl fiel auf Ladislao Vajda, der 1955 mit Marcelino, pan y vino nicht nur einen großen Erfolg erzeugt, sondern große Fähigkeiten in der Führung jugendlicher Darsteller bewiesen hatte – das war nicht falsch. Vajda redete mehrere Sprachen, doch war sein Deutsch ungarisch grundiert und spanisch gefärbt. Der Basler Max Haufler, Schauspieler und auch Regisseur, wurde sozusagen sein besseres Ohr für die Dialoge.
Vajda brachte nicht nur seinen bewährten Chefkameramann Heinrich Gärtner, der eindeutig, so alt er war (geb. 1895 in Wien), eine Bereicherung in der Bildgestaltung bedeutete, sondern noch einen weiteren Koproduzenten aus Spanien mit – samt neuen Forderungen.
Das war alles recht und gut, hatte aber kaum merkbaren Einfluss auf Wechslers kleinkariertes bis krämerartiges Gebaren im Tagesgeschäft, in der Produktionsabwicklung, die häufig an Bastelei grenzte. Es wurde praktisch keine andere Mannschaft vorgesehen, wie sonst in der Schweiz üblich, also eine zu kleine, was Überbelastung und Ausbeutung der zu wenigen Mitarbeiter heißt.
Diese Kluft oder Schere zwischen internationalen Ansprüchen beziehungsweise Erwartungen und schweizerischen Gewohnheiten wurde für alle (einheimischen) Mitarbeiter schmerzlich: sie mussten das leisten, wofür sie – nicht fähigkeits- sondern zahlenmäßig – unterlegen waren. Auf Kosten der eigenen Knochen! Und sie fühlten sich auch noch missachtet.
Es besteht in jedem Filmatelier, aus feuerpolizeilichen Gründen, Rauchverbot; Vajda und Gärtner bestanden darauf, unbegrenzt qualmen zu dürfen, wobei das Rauchen den anderen, gemeinen Leuten streng untersagt blieb. Und einmal tobte Gärtner: Man sehe durchs Atelier nur noch durch Nebel! Lüften!! So was erleichterte mir die Aufgabe, Ordnung und Ruhe bei den Aufnahmen zu halten, nicht.
Belegschaft
Überall neigen Produzenten dazu, Regisseure kurz zu halten. Damals in der Schweiz war das besonders ausgeprägt; die Produzenten – Wechsler vor allen – betrachteten Regisseure als Günstlinge, erwarteten von ihnen Dankbarkeit für die Gnade, einen Film drehen zu dürfen, und ein duckmäuserisches Benehmen: somit war der Regisseur das schwächste Glied in der Herstellungskette – und bekam es manchmal seitens der Mitarbeiter zu spüren. Diese Haltung bestand zumindest teilweise bei international angelegten Produktionen wie Es geschah am helllichten Tag, besonders als Zwang zur Sparsamkeit. Zum Beispiel als es um die Zahl der Statisten für die Szene im Dorfwirtshaus, wo die Bauern dem Hausierer an den Kragen wollen, ging: die Wunschvorstellung Vajdas war für den Produktionsleiter übertrieben; ich verfolgte, wie die Herren feilschten, um am Schluss meine Aufgabe zu erfahren: fünfzehn Männer. Die also bestellte ich, ohne Statistenkartei, Statistenbörse oder sonstige Einrichtung, einzeln, durch Zureden. Vielleicht waren es, aus Vorsicht vor einem Ausfall, sogar sechzehn – und es war mir bewusst, dass sie für den Raum nicht ausreichten. Am Morgen des Drehtages befahl Vajda „alle Statisten in die Dekoration", blickte kurz, sagte „Doppelt so viele", drehte sich weg und verschwand. Der Produktionsleiter rannte ihm nach, beschwor ihn, doch die Arbeit zu beginnen, mit Aufnahmen in Richtung des Kommissars Matthäi und des Hausierers, über die angeschnittenen Köpfe der halt anwesenden Statisten; und ich verließ den Dreh, rannte durch die Beizen der Altstadt, wo Arbeitslose, Rentner, Wermutbrüder usw. herumsitzen, um für den Nachmittag weitere fünfzehn, als Bauern glaubwürdige Gestalten zusammenzutreiben (es gelang).
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In fast allen Abteilungen waren wir unterbesetzt, aber alle Beteiligten waren bereit, sich die Beine auszureißen (bereit, oder einfach gewöhnt bis genötigt?). Auf der organisatorischen Seite gab es den Produktionsleiter, eine Produktionssekretärin, zwei Telefonleitungen und einen Aufnahmeleiter, mich. Zugegeben: manchmal war ich – bei allem Eifer – überfordert. Einen hauptamtlichen Requisiteur gab es nicht, denn so war es üblich. Der Inhaber eines Trödelladens übernahm diese Funktion, insofern als ich ihn anrief (und er saß nicht immer in seinem Geschäft) und ihm aufzählte, was für die nächsten Tage laut Drehbuch notwendig war. Das brachte er in einem großen Korb; und wenn etwas fehlte, wenn dem Regisseur etwas einfiel, rannte ich wieder herum oder – mit großem Glück – konnte es telefonisch bei Bekannten erbetteln. Einmal sogar besorgte sich Vajda, ohne ein Wort zu sagen, selbst jene üppige Topfpflanze, die ihm im Originalmotiv fehlte! Es gab auch keinen Kostümbildner im eigentlichen Sinne, nur einen Ankleider, der über einen bescheidenen Fundus verfügte. Unter diesen Umständen kann man sich über die Qualität des Endproduktes nur wundern.
Immerhin war die Kameramannschaft um den DoP Heinrich Gärtner auf der Höhe des international üblichen Brauches vollständig besetzt, also mit Schwenker, Schärfe-Assistenten und Material-Assistenten. Dieser letzte hatte, neben dem Laden und Leeren der Kassetten, noch die Aufgabe, vor wichtigen Einstellungen einen gerade gedrehten Probestreifen schnell zu entwickeln, um am Negativ die Ausleuchtung durch den Meister überprüfen zu lassen. Denn die Ausleuchtungsart von Gärtner war aufwändig – und die zwei zusätzlichen Beleuchter, die er durchgesetzt hatte, wirklich nicht überflüssig. Gärtner setzte nämlich viele einzelne Lichtpunkte auf einzelne Gegenstände, also viele eher kleine Scheinwerfer mit präzisen Zielen ein; diese subtile Kunst erforderte mannigfaltige Abdeckungen, stoffbespannte Rahmen, Metallflügel, Kartonstücke, ausgeschnittenes schwarzes Papier, mit vielen Wäscheklammern.
Wie viele andere Kameraleute konnte Gärtner schwer aufhören, an seinem Licht herum zu pusseln. Als er endlich meldete, Vajda könne zu proben beginnen, war noch nichts sicher; plötzlich stellte sich Gärtner direkt vors Gesicht eines Darstellers, um sich durch ein Dunkelglas der Genauigkeit eines Lichtstrahles zu versichern, und sprach dabei: „Lass dich nicht stören, Laszlo, lass dich nicht stören". Dieses Benehmen beschleunigte die Arbeit nicht, die ich voranzutreiben hatte. Dann donnerte Wechsler am Telephon: „Wie viele Seiten habt ihr schon gedreht?" Und ich versuchte, ihm sehr ungeschickt zu erklären, dass zwar keine ganze Seite, aber drei oder vier zur Hälfte (also nach der einen Blickrichtung) gedreht wurden – der Produzent grollte, uneinsichtig.
Kadriert wurde prinzipiell in damaligem „Breitwand"-Format (1 : 1,65), aber das normale Bild (1 : 1,37) musste brauchbar bleiben, wegen der Auswertung in den Kleinstadtkinos; es ist auch das heute noch gebräuchliche Format beim Fernsehen, wo Es geschah am hellichten Tag nicht selten läuft. Doch einmal gab es viel Ärger, weil im sonst abgekaschten unteren Bildteil ein Stück Schiene zu erblicken war. Der ganze Film wurde so weit wie möglich mit Optiken aufgenommen, die in etwa dem menschlichen Augen entsprechen: f = 30, 35 und 40 mm. Um bei Naheinstellungen Schnitt und Gegenschnitt anzugleichen, wurde der Abstand zum Gesicht gemessen und gleich gehalten – was eigentlich ein Trugschluss ist, denn im selben Abstand füllt das kleine, schmale Gesicht von Rühmann das Bild anders als der gewaltige Kopf von Michel Simon.
Besetzung
Darsteller der Hauptrolle, der in deutschsprachigen Ländern berühmte Heinz Rühmann war eindeutig der wichtigste Mensch (oder das wichtigste Teilstück im Räderwerk) der Produktion: das war spürbar, ohne dass man sagen könnte, er ließe das die anderen spüren. Sehr „menschlich" zeigte er sich allerdings nicht... Seine Professionalität war unbestreitbar, genau wie seine Konzentration allein auf die Arbeit, sein Ernst. Vor dem ersten Drehtag hatte er verständnisloses Staunen erregt, indem er einen Sessel direkt hinter der Dekoration verlangte, um sich ganz nah vom „Kampfplatz" in sich zurückzuziehen, mit seinem Drehbuch und seinen Buntstiften, sich den Gang hin zur Garderobe und zurück zu ersparen; aus dieser Ecke kam er sekundenschnell zum Einsatz in voller Leistungsbereitschaft. Kontakt hielt er hauptsächlich zu seinem persönlichen Maskenbildner, der auf sein Verlangen angestellt worden war; mit den anderen blieb er auf kühlem Abstand. Uns wunderte auch seine Humorlosigkeit.
Als Michel Simon als Hausierer zu den Dreharbeiten stieß, spürte der schon vor dem Krieg zum Weltruhm gelangte Charakterdarsteller sofort das Missbehagen in der Belegschaft und gab sich offen, zugänglich, heiter (obwohl er auch – wie ich später von französischen Kollegen erfuhr – recht unangenehm bei der Arbeit sein konnte), ohne Allüren. Zwischen uns beiden Genfern entstand verständlicherweise eine kleine Komplizenschaft, bis zu unterschwelligen unanständigen Anspielungen – was sich keiner mit Rühmann hätte vorstellen oder erlauben können. Als alle Szenen in der Dorfkneipe abgedreht waren, gab Michel Simon uns den Inhalt dieser Dekoration zum Plündern (sprich: Saufen) frei! Was die Arbeit betraf, war er allerdings nicht weniger eifrig und konzentriert, trotz oder eher wegen der Sprachschwierigkeiten, denn in der Genfer Schule hatte er recht wenig Deutsch vor recht langer Zeit gelernt. Zu Recht weigerte er sich, kurz vor Einschalten der Kamera Dialogänderungen anzunehmen, denn er hatte mit mühsamem Fleiß seinen Text rein phonetisch mit Hilfe einer Tonbandaufnahme memoriert.
Ebenfalls zugänglich zeigte sich der durch sein musikalisches Ohr sprachwendige Sachse Gert Fröbe. Die Madrilenin Maria Rosa Salgado, die einzige weibliche Darstellerin mit mehr als einem Drehtag, war eine Wunschbesetzung des spanischen Koproduzenten, um dem Film den weltweiten spanischsprachigen Markt zu öffnen; sie wurde mit Respekt behandelt, ihre Unkenntnis der deutschen Sprache bildete um sie eine Art Schutzwolke; sie sah vielleicht etwas zu vornehm für die Rolle aus.
Abgesehen vom im Ausland schon lange tätigen Michel Simon besetzten Schweizer nur Nebenrollen. Scharf kennzeichnend für die Herabsetzung der Einheimischen war der Fall von Anneliese Betschart: bevor die Spanier in die Koproduktion einstiegen, war sie für die Rolle der ledigen Mutter des „Ködermädchens" vorgesehen; zum Trost oder als Entschädigung für die entgangene Hauptrolle gab man ihr den kurzen Auftritt der Schullehrerin – sowie die grausame „Ehre", Maria Rosa Salgado auf Deutsch nach zu synchronisieren. Es hat manche Zuschauer gestört, im Lauf des Films zweimal dieselbe Stimme zu hören, denn Anneliese Betschart war ein recht bekanntes Mitglied des Ensembles am Schauspielhaus Zürich.
Zur Stärke des Werks tragen genau gewählte Darsteller, oft eben erste Kräfte, als Nebenfiguren gewiss bei. Das wird am deutlichsten bei den Eltern des ermordeten Mädchens: die große Margrit Winter und der wunderbare Hans Gaugler, der am Berliner Ensemble die Titelrolle in der Brecht'schen Bearbeitung von Lenz' Hofmeister gespielt hatte. Weil diese Produktion so viele anerkannte Größen und Berühmtheiten bündelte, wollten viele mitmachen, ja erklärten sich Schauspielschüler, die ich kannte, zur Statisterie bereit. Nur die ältere Traute Carlsen zierte sich und ich musste mich anstrengen, um sie zur Zimmerwirtin von Matthäi zu überreden.
Eidgenössische Ausnahme in diesem hohen Kreis wurde Anita von Ow. Nach den Probeaufnahmen war ihr eine der Kinderrollen schon sicher, und ich führte die ersten Gespräche mit ihren Eltern, um derer prinzipielles Einverständnis einzuholen; als entschieden wurde, sie solle den unschuldigen Lockvogel verkörpern, übernahm eine höhere Stelle die Verhandlungen.
Einige teure Darsteller (Bertha Drews als herrische Gemahlin des Unholdes Fröbe, Ewald Balser als Psychiatrieprofessor), die nur in Innenaufnahmen erschienen, kamen nicht nach Zürich. Als Folge der Koproduktion mussten einige Szenen in Berlin, in den CCC-Ateliers, gedreht werden. Nur die allerwichtigsten Stabmitarbeiter flogen dorthin; die anderen wurden gebeten, sich für die Wiederaufnahme der Arbeit in Zürich bereit zu halten, jedoch ohne Lohn. Da in dieser Zwischenzeit die Fortsetzung des Drehs in der Schweiz vorzubereiten war, blieb ich vor Ort am Werk – bei halber Wochengage.
Wechsler war der (schlussendlich irrigen) Meinung, er könne über Beschäftigung und Nichtbeschäftigung sämtlicher Filmschaffenden der Schweiz bestimmen, dabei überschätzte er sich nur wenig; aber diese Haltung war nicht zukunftsträchtig, genauso wie die Zurückdrängung jeden möglichen Nachwuchses. Vielleicht auch deshalb blieb die Riesenanstrengung "Es geschah am hellichten Tag" ohne Nachfolge, ohne weitere Wirkung, ohne der Schweizer Filmproduktion weiterzuhelfen. Schade.
(Philippe Dériaz, 2016)
Für die Unterstützung bei Recherchen und Bildmaterial danken wir insbesondere: Artur Brauner-Archiv im Deutschen Filminstitut - DIF, Pete Gassmann, Praesens-Film AG, Zürich, Sarah Polligkeit, Rechte / Material / Lizenzen, CCC Filmkunst GmbH, Berlin