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Vertigo Kamera

Während die Kamera zurückfährt, 'fährt' die Zoom-Optik scheinbar vor. Die Gegenläufigkeit sprengt optische Gesetze.

 

Trügerische Sicherheit

Unser Umgang mit der wirklichen Welt, unsere Sicherheit bei unseren Bewegungen, beim Einschätzen von Situationen, wird geprägt durch jahrelange Erfahrungen, durch das intuitive Erlernen physikalischer Gegebenheiten. Wie einst die Jahrmarktsbuden mit ihren Zerrspiegeln, versucht auch das Kino ab und an, uns dieser Erfahrungswerte für kurze Zeit zu berauben.

Viele Blockbuster-Filme wie "Matrix", "Terminator", "Harry Potter", "Der Herr der Ringe" etc. überbieten sich gegenseitig mit aufwändigen Trickeffekten, die ohne High-Tech-Workstations niemals realisierbar wären. Manche Tricks aber entstehen tatsächlich noch immer am Drehort selbst und erfordern hohe Präzision. Zu diesen gehört die gleichzeitige Kamerafahrt verbunden mit gegenläufiger Zoomfahrt, nach einem ihrer ersten Kinoeinsätze auch "Vertigo-Effekt" genannt. Die Reihe der verschiedenen Benennungen des gleichen Effekts ist lang: "Travelling back-zooming in", "Contra zoom", "Schärfentiefefahrt" oder "Gegenläufige Zoom-/Kamerafahrt" lauten weitere Varianten.

 

Vertigo

In diesem Hitchcock-Klassiker vermittelt der Kameratrick ein schwindelerregenden Eindruck, lässt den Zuschauer förmlich den Boden unter den Füßen verlieren. In der Rolle als ehemaliger Polizist mit Höhenangst verliebt sich James Stewart (als John Ferguson) in Kim Novak (Madeleine), die sich, getrieben von Suizidgedanken, von einem Kirchturm stürzt. Seine Höhenangst verhindert, dass er sie retten kann, was dem Zuschauer visuell spektakulär vermittelt wird.

Um eine entsprechende Schienenfahrt verwirklichen zu können, wurde das Treppenhaus in "Vertigo" übrigens liegend aufgebaut. Brian de Palma hat in seiner Hommage an Hitchcock, dem Film "Obsession" (ein Remake), ebenfalls mit diesem Kameratrick gearbeitet. Um den Eindruck zu intensivieren, beschäftigte de Palma übrigens auch den gleichen Komponisten, Bernard Hermann.

 

Widerspruch

Die Größe der Person bleibt gleich, obwohl die Kamera sich immer weiter entfernt. Das Zoomobjektiv gleicht die Größenveränderung aus

Die Größe der Person in der nebenstehenden Abbildung bleibt gleich, obwohl die Kamera sich immer weiter entfernt. Das Zoomobjektiv gleicht die Größenveränderung aus. Für den Zuschauer wird ein optischer Widerspruch aufgebaut, der einerseits aus einem "sich nähern, zufahren, auf etwas zufallen oder stürzen" (Zoom fährt voraus) und andererseits aus einem "zurückweichen, nach hinten gehen oder fahren" (Kamera fährt auf Schienen zurück) besteht. Damit trifft der Effekt genau die Situation der Hauptfigur mit ihrer unüberwindlichen Höhenangst. Die Sehnsucht, sich in die Tiefe zu stürzen, trifft auf die Angst vor dem Fall.

 

Umsetzung

Technisch gesehen, wird die Zoom-Optik verwendet, um den Bildwinkel in dem Maße entgegengesetzt zu verändern, wie er sich durch die Kamerafahrt ändert. Fahre ich mit der Kamera von einer Person zurück (Perspektive ändert sich), so müsste diese eigentlich immer kleiner werden. Wenn ich aber gleichzeitig im selben Maße die Person mit dem Zoomobjektiv näher heranhole, sodass sich deren Größe im Bild nicht ändert, entsteht ein perspektivische Störung.

Am Drehort selbst bedeutet die Umsetzung dieses Effektes höchste Genauigkeit in der Koordination von Kameraassistent und Kamera-Bühne. Die Geschwindigkeit, mit welcher der Dolly-Fahrer die Kamera vor- oder zurückfährt, und jene, mit welcher der Kameraassi die Zoomfahrt ausführt, müssen absolut gleichmäßig und präzise sein. Ganz nebenbei will auch die Schärfe während der Distanzveränderung zum Darsteller nachkorrigiert sein. Daran sind schon manche Profis gescheitert, auch wenn die technischen Hilfsmittel wie Motorzoom und Fernschärfe komfortabler sind als zu Hitchcocks Zeiten. Der menschliche Faktor und zahlreiche Unwägbarkeiten machen diesen Trick auch heute noch zu einer großen Herausforderung. Für eine perfekte Koordination sorgt heutzutage (wenn das Budget groß genug ist) die Motion-Control, denn hier können die verschiedenen Parameter vollständig vom Computer koordiniert und gesteuert werden. Filme wie "Road to Perdition", "Bang Boom Bang", "Spy Game", "Heat", "Der Herr der Ringe", "Pollock" sind dafür Beispiele.

 

Tilt & Shift

Eine gewisse Verwandtschaft mit diesem Effekt haben sogenannte "Tilt & Shift"-Objektive. Bei diesen ist eine der Linsen (meist die Frontlinse) beweglich angeordnet und kann in einem gewissen Umfang (bis ca. 180 Grad) gedreht werden. Man kann damit z. B. für Architekturaufnahmen stürzende Linien (etwa bei Straßenaufnahmen an hohen Häusern hinauf) korrigieren. Oder es gelingt, Objekte im Vordergrund gleichzeitig mit dem Mittel und Hintergrund scharf abzubilden, ohne dass man eine kleine Blende einstellen muss. Damit werden physikalische Gesetze etwa der Schärfentiefe ad absurdum geführt. Man kann das ganze Bild förmlich drehen. Verstellt man die Linse(n) bei laufender Kamera, so stellt sich ebenfalls ein den Zuschauer verwirrender Effekt ein.

 

Physiologische Erklärung

Die menschliche Wahrnehmung arbeitet bei der unbewussten Beurteilung von Größenverhältnissen sowohl mit der Größe (Größe des Darstellers im Bild), als auch mit Verhältniswerten (Abstand des Betrachters vom Vordergrund und Hintergrund). Der Vertigo-Effekt konfrontiert den Zuschauer mit dem in der Wirklichkeit nicht vorkommenden Veränderung der Perspektive ohne Veränderung von Größenverhältnissen. Ein wichtiger Teil unserer Seherfahrung wird plötzlich ad absurdum geführt. Was liegt näher, als wenn man Veränderungen in der Psyche von Filmfiguren oder in deren Wahrnehmung anderer Filmfiguren oder der Sicht des Zuschauers mit diesem Effekt zu verstärken? In "GoodFellas" von Martin Scorsese etwa taucht der Effekt am Höhepunkt des Films auf: Henry Hill (Ray Liotta) und Jimmy Conway (Robert de Niro), die alten Freunde, sitzen sich im Restaurant gegenüber. Als Henry erkennt, dass Jimmy ihre Freundschaft verraten hat, ändert sich die Perspektive ganz langsam, doch die Größe der Personen bleibt konstant.

 

Schärfenveränderung

Griem Flur 2000

Die Person im Vordergrund bleibt durchgehend scharf, während der Hintergrund zunehmend Unschärfe annimmt.

 

Je nach Arbeitsblende und Brennweite geht dieser Kameratrick einher mit einer Veränderung der Schärfentiefe. Damit kann eine Filmfigur aus einer Menschenmenge, in der man gerade noch viele andere Personen gesehen hat, so weit optisch isoliert werden, dass die Menschenmenge nur noch in absoluter Unschärfe liegt. Nur unsere Filmfigur wird dann noch wahrgenommen. Leider wird der Effekt auch oft unnötig eingesetzt und sollte eigentlich nur extrem selten und nur für wirklich sinnvolle, der Filmstory angemessene Momente eingesetzt werden.

 

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