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Paris 1995

Von Trier und Vinterberg stellten im Mai 1995 während einer Konferenz aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Kinematografie mit viel Medienwirbel ihr Dogma-Manifest in Paris vor. Sie taten dies genau dort, wo 40 Jahre vorher François Truffaut gemeinsam mit anderen Kritikerkollegen der Filmzeitschrift "Cahiers du cinéma" das Autoren-Kino postulierte.
Das in pseudo-religiösen Formeln aufgestellte Manifest zur Rettung des Films ist in die Jahre gekommen. Und auch die anfängliche Bewunderung ob soviel gestalterischer Keuschheit ist einer etwas realistischeren Einschätzung gewichen.

 

Worum ging es?

Die Rede war von den Wurzeln des Filmemachens, von der Verbannung allen modischen Effektes und technischer Spielerei. Pures Spiel der Darsteller, karge Handkamera, aufrichtiges Kino, so lauten die Grundformeln. Die Regisseure schwören, von ihrem persönlichen Geschmack Abstand zu nehmen, der Kunst zu entsagen. Als oberstes Ziel wollen sie ihre Akteure zur Wahrheit zwingen.

Das Kino stirbt! DOGMA 95, das filmische Reinheitsgebot, der „Schwur der Keuschheit“ rettet das Kino! Der missionarische Eifer vor allem bei Lars von Trier zeigte sich bereits in den herumgereichten Formulierungen.

 

Die Thesen

    1. Du sollst "on location" drehen. Weder Requisiten, noch Szenenbilder dürfen genutzt werden. Wenn eine bestimmte Ausstattung notwendig ist, so muss ein Drehort gefunden werden, an dem diese schon vorhanden ist.
    2. Du sollst den Ton nicht separat von den Bildern produzieren. Schauspieler darf man nur im O-Ton hören. Musik darf man nur verwenden, wenn sie am Drehort live während der Filmaufnahme gespielt wird.
    3. Du sollst nur mit der Handkamera drehen. Jede Bewegung oder Ruhestellung, die mit der Handkamera machbar ist, sei erlaubt. Schienen, Steadicam etc. sind verboten. Die Kamera soll dorthin gebracht werden, wo auch der Film stattfindet.
    4. Du sollst nur in Farbe filmen. Eine besondere Ausleuchtung ist verboten. Falls zu wenig Licht am Drehort ist, darf maximal eine Lampe an der Kamera befestigt werden.
    5. Du sollst den Film nicht optisch bearbeiten und keine Filter nutzen.
    6. Du sollst keine überdramatische Action in den Film einbauen. Künstliche Reize durch Schießereien oder Mordszenen sind untersagt.
    7. Du sollst weder zeitliche noch geographische Verfremdungen vornehmen. Also keine historischen Sujets, alles hier und jetzt.
    8. Genre-Filme werden nicht akzeptiert.
    9. Du sollst im Format Academy 35 mm drehen. Das entspricht 1:1,37, etwa dem heutigen TV Format.
    10. Du sollst nicht nennen deinen Namen! Der Regisseur soll weder im Vor- noch im Abspann erwähnt werden.

 

Die Filme

Wie realistisch waren und sind denn nun die Dogma 95 Filme wirklich? Wie sehr hielten sich die Regisseure an ihre Vorgaben?

Das Fest (Thomas Vinterberg), Idioten (Lars von Trier), Mifune (Soren Kragh-Jacobsen) oder Italienisch für Anfänger strahlen zwar jede Menge Anarchie und Chaos aus, doch sind sie deshalb auch realistischer, filmischer, wahrhaftiger als andere Filme?

Sicherlich bedeutet die Reduktion der Technik am Drehort im Idealfall eine stärkere Konzentration auf die Arbeit der Schauspieler. Und auch ein reduziertes, kleineres Team kann Vorteile haben. Diese Gedanken sind nicht neu, Regisseure wie Jonas Mekas oder John Cassevetes haben schon lange vor 1995 puristische Kameraführung erprobt.

Wenn Lars von Trier im Abspann seines Filmes nicht genannt wird, zugleich aber über sämtliche verfügbaren Medien und Wege bis hin zu diversen Webseiten seine Autorenschaft postuliert, so wird klar, welche Widersprüche die Arbeitspraxis und die Forderungen von Dogma 95 in sich tragen. Zahlreiche Regelbrüche hat Lars von Trier selbst, stets werbewirksam der Öffentlichkeit enthüllt. Ein paar hervorragende Filme sind unter dem Label Dogma entstanden. Ob sie die gleiche Qualität auch vom Stativ oder Dolly gedreht, erreicht hätten, bleibt das Geheimnis ihrer Urheber.

 

Realität oder Gestaltung

Wie vermeiden die Dogmatiker, dass die Handkamera nicht ebenfalls eine persönliche Auswahl, einen Ausschnitt der Realität trifft? Nur weil das Bild wackelt ist es doch dadurch nicht wirklicher? Vielleicht gaukelt es uns durch die Nähe zum Amateurhaften den dokumentarischen Look nur vor? Und wie ist es mit dem Augenblick, den der Kameramann auswählt, einem zeitlichen Ausschnitt, den er dem Zuschauer aufzwingt? Jede Art von Aufnahme ist bereits eine Gestaltung. Nur weil die Kamera extrem wackelig (wie etwa in Idioten) ihre Bild-, und Momentauswahl dem Zuschauer darbietet, ist sie nicht objektiver.

Es gibt auch eine Wahrhaftigkeit des Filmschaffenden, der durch seine Gestaltung die Wirklichkeit abbildet. Lügen alle Regisseure, die ihre Filme ohne Handkamera und mit Lichtgestaltung drehen?

Zum Aufwachen und Nachdenken über pures Effektkino war Dogma 95 auf jeden Fall sinnvoll. Als Grundlage, Filmsprache gestaltend zu entwickeln, scheint es aber weniger geeignet. Lars von Trier war mit „Dancer in the Dark“ wohl zu einem ähnlichen Schluss gekommen.

 

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