L'esquive
Frankreich 2004
Buch und Regie: Abdellatif Kechiche
Buchmitarbeit und Schnitt:
Ghalya Lacroix
Kamera: Lubomir Bakchev
Ton: Nicolas Washkowski
Ausstattung: Michel-Ange Gionti
Kostüm: Maria Beloso-Hall
Darsteller: Osman Elkharraz, Sara Forestier, Sabrina Ouazani
"L'esquive" bedeutet "Ausweichen" im sportlichen
Kontext- und ist im französischen Vorortslang gleichbedeutend mit
"sich vor etwas drücken". Damit ist der Titel Programm, denn im
Leben der Pariser Vorstadtkids zeigt sich, dass Ausweichen ein Luxus ist,
den sich keiner leisten kann.
Ein paar versuchen es doch: Krimo, der sich in seine Kindheitsfreundin
Lydia verliebt hat. Er weicht vor seiner Ex aus, vor den Kumpels, vor sich
selbst. Dann Lydia, die ganz in der Schultheaterproduktion von Marivauxs
"Spiel von Liebe und Zufall" aufgeht. Sie weigert sich, klare
Worte zu sprechen; zu Krimo, den sie hinhält, zu ihren Freundinnen, die
die Verhältnisse geklärt wissen wollen. "Alle machen Druck",
sagt sie. "Wie soll man denn da nachdenken und sich entscheiden
können?"
Sie können alle nicht aus ihrer Haut. Dabei ist Krimo bereits über
seinen Schatten gesprungen: um Lydia nahe zu sein, hat er die männliche
Hauptrolle in der Schulproduktion übernommen. Er, der nie ein Buch liest
und auch sonst nicht viel mit der Unwirklichkeit der Literatur anfangen
kann. Was Lydia als Fluchtmöglichkeit begreift, macht ihm Angst. Richtig
bemitleidenswert, wie die Französischlehrerin verzweifelt versucht, den
wie gelähmt wirkenden Krimo dazu zu bringen, aus sich herauszugehen und
Gefühl zu zeigen, anstatt den Text herunterzuleiern. Ein hoffnungsloser
Fall, und allein wegen dieser Szenen sollte "L'esquive" bereits
Pflichtfilm für jeden leidgeprüften Schultheaterregisseur sein.
Auf Dauer gelingt es aber weder Lydia noch Krimo, der Realität
auszuweichen. Denn das fragile Gleichgewicht der Ghettokids gerät durch
den von ihnen verschuldeten Schwebezustand ins Wanken. Man möchte klare
Verhältnisse, und Ausweichen ist ein Zeichen von Schwäche. Schließlich
nimmt Krimos "Homie"- was etwa gleichzusetzen mit
"Kindheitsfreund" ist- die Angelegenheit in seine Hände. Als
dann noch die Polizei auftaucht, wird klar: man muss hart sein, um in
diesem Umfeld zu bestehen.
Es ist schlicht einfach nur gut und wahnsinnig interessant, wie
Abdellatif Kechiche das Leben und Lieben der Vorstadtjugendlichen
inszeniert. Fast ausschließlich mit Laiendarstellern gedreht, erreicht
der Film einen Grad an Glaubwürdigkeit, der beinahe beängstigend ist.
Manchmal wähnt man sich sogar in einem Dokumentarfilm, so ernsthaft setzt
sich der Regisseur mit seinen Protagonisten auseinander. Er zeigt die
Vorstadt abseits von den gängigen Klischees von Drogen und Gewalt, ohne
dabei jemals kitschig oder unglaubwürdig zu werden.
Leider wird sich die Zahl der Kinos, in denen "L'esquive" zu
sehen sein wird, an einer Hand abzählen lassen. Umso mehr lässt sich
dieser Film empfehlen, der durchgängig spannend, lehrreich und berührend
ist. "L'esquive" gehört zu jenen kleinen Kinoperlen, die man
leider immer erst entdecken muss, weil sie aus Rentabilitätsgründen
nicht der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zwei
Festivalpreise hat der Film bereits bekommen, außerdem vier Césars für
besten Film, Regie, Drehbuch und beste Nachwuchsdarstellerin (Sara
Forestier als Lydia). Bleibt zu hoffen, dass zu den (berechtigten) Preisen
auch noch ein paar deutsche Zuschauer hinzukommen.